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Brennnessel - Der Schatz einer Kriegerin

Es gibt wohl kaum jemanden, der noch keine Bekanntschaft mit der Brennnessel gemacht hat und sich an ihr die Finger verbrannte. Und meistens war diese Begegnung ungewollt. Die Brennnessel ist wie eine stille Kriegerin – eine Amazone mit Pfeil und Bogen und kommt man ihr zu nahe, dann schießt sie unzählige ihrer Pfeile ab. Sie geht also wahrlich unter die Haut, und von dort aus direkt weiter ins Großhirn, Abteilung Bleibende Erinnerung. Man könnte auch sagen, sie hat sich dort im wahrsten Sinne des Wortes ins Gedächtnis „eingebrannt“.



Nicht nur in ihrem deutschen Namen sondern ebenfalls in ihrer lateinischen Bezeichnung Urtica dioica ist ihre feurige Eigenart betitelt. Urtica leitet sich lateinisch von „urere“ ab und bedeutet „brennen“. Dioica weist auf ihre Zweihäusigkeit hin.

Die meisten Menschen betrachten die Brennnessel heute nur mehr als lästiges Unkraut, dabei steckt in ihr soviel mehr, wahre Schätze sind in ihr verborgen. Doch diese wollen erst einmal entdeckt werden. Meistens jedoch fristet die Brennnessel ein unbeachtetes sowie ungeliebtes Dasein. Dabei liebt sie es, sich in der Nähe der Menschen anzusiedeln. Vielleicht möchte sie eben einfach beachtet und geachtet werden.

Durch ihre unauffällige Art und ihrer versteckten Schönheit, die weitab von jeglichen Schönheitsidealen liegt, hat sie ihren eigenen Weg gefunden, auf sich aufmerksam zu machen – selbstverständlich mit bleibender Erinnerung. Das Wundermittel ist ein Cocktail aus Histamin, Acetylcholin, Serotonin und Ameisensäure, der bei der kleinsten Berührung injiziert wird, denn die Brennhaare ähneln sehr einer Injektionsnadel. Am Ende eines jeden Brennhaares befindet sich ein kleines Köpfchen, dass bei Kontakt durch die darunter gelegene Sollbruchstelle messerscharf abbricht und wie eine Nadel in die Haut eindringt. Ein sehr ausgeklügeltes Verteidigungssystem.


Warum brennt die Brennnessel? Will sie wirklich weh tun? In den meisten Beschreibungen liest man, dass die Brennnessel sehr auf Distanz bedacht ist und ein „Fass mich nicht an“ auf ihrer Stirn geschrieben hat aus Angst vor Verletzungen, als wäre sie ein schwerbewaffnetes Mimöschen. Für mich symbolisiert sie jedoch eher die Herausforderung, Provokation und eine Aufforderung an den Mut - „Na, traust du dich?“ Denn das Geheimnis ist, wie man mit der Brennnessel umzugehen weiß. Da ist Beherztheit und Mut gefragt, fest zupacken ist die Devise, sodass die gefährlichen Brennhaare abgedrückt werden, ehe sie stechen können. Die Pflanze von unten nach oben gestreift, ist ebenfalls ungefährlich. Und ein einzelnes Blatt wird von innen nach außen abgestreift, in Richtung der Brennhaare. Diese Hinweise sind nicht nur verschiedener literarischer Quellen entnommen, sondern im Eigenversuch erprobt. Es funktioniert tatsächlich, aber ein paar besonders Bissige gibt es trotzdem, da helfen dann nur Handschuhe und als Erste Hilfe Maßnahme schaue man sich nach einem Breit- bzw. Spitzwegerich oder einem Ampfer um.



Die Brennnessel ist eher eine schlichte Pflanze, etwas unscheinbar auf den ersten Blick. Doch mir scheint, sie hat eine Vorliebe für Geometrie und Symmetrie, denn ihre Blätter sind gegenständig angeordnet und bilden mit dem darüber oder darunterliegenden Blattpaar ein Kreuz. Der geometrischen Ordnungsliebe nicht genug hat die Brennnessel einen kerzengeraden und akkurat 4-kantig gerillten Stengel, der hoch hinaus will. In den Blüten will sich leider kein Farbtupfer zeigen und obendrein sind diese auch noch winzig klein. Um sie in ihrer ganzen Pracht betrachten zu können, ist eine Lupe von Nöten. Die Brennnessel ist eine zweihäusige Pflanze, das bedeutet, dass männliche und weibliche Blüten getrennt voneinander auf verschiedenen Pflanzen wachsen. Die männlichen Blüten haben sich ebenfalls der Zahl 4 verschrieben und mit ihren vier Staubblättern bildet sie abermals ein Kreuz. Die weibliche Blüte wirkt dagegen etwas wild wie ein Struwwelpeter in Miniaturform. Auffallend in ihrer ganzen Erscheinung ist die Betonung des Aufrechten, so als wolle sie hoch hinaus, aber auch ein gewisser Stolz scheint da enthalten zu sein. Aufrecht, aufrichtend, aufrichtig – sind das Aspekte, die die Brennnessel vermitteln möchte?

Eine Begegnung mit der Brennnessel ist ein Spiel mit dem Feuer. Und vielleicht liegt gerade hierin ein Teil ihres Schatz verborgen. Die Pflanze ist dem Element Feuer zugeordnet. Da stellen sich mir vielerlei Fragen. Will sie mich oder etwas in mir verbrennen? Welches Feuer will sie in mir entfachen? Wofür brennt mein Herz, was erweckt das Feuer der Begeisterung und/oder Leidenschaft in mir? Wo möchte ich, dass meine Glut, mein Feuer nicht vergeht? Ist das Leben zu kalt, zu ungelebt und möchte die Brennnessel daher dem Leben mehr Feuer verpassen oder in ihrem Fall injizieren, den Funken überspringen lassen? Feuer ist heiß, der Sommer ist heiß – manchmal ist es auch zu heiß – es brennt wild und ungezügelt und manchmal ist es schwer ein Feuer unter Kontrolle zu halten, da will es ausbrechen und seine Funken versprühen, will sich ausbreiten, will alles niederbrennen – wild und unkontrolliert. Wild und unkontrolliert, das fehlt den Menschen in einer Zeit wo sie nur mehr funktionieren sollen. Vielleicht ist es das Feuer der Wildheit, des Ungezähmten, das die Brennnessel in mir/uns entfachen möchte. Vielleicht will es das Zuviel an Kontrolle verbrennen. Oder einfach das Alte, das nicht losgelassen werden will/kann muss verbrannt werden, damit ein fruchtbarer Boden für das Neue bereitet werden kann. Feuer bringt aber nicht nur Wärme sondern auch Licht, allen voran die Sonne, die ja schließlich ein riesiger Feuerball ist. Und mit Licht kann die Brennnessel sehr gut umgehen, sie gehört zu den chlorophyllreichsten Pflanzen. Also vielleicht geht ja bei soviel Feuer das ein oder andere Licht dann auch auf.

Was die Brennnessel meisterlich beherrscht, ist die Aufmerksamkeit ins Jetzt zu lenken. Die Gedanken können in der Vergangenheit, der Zukunft oder in Träumen und Fantasien sein, sie schafft es dennoch die Achtsamkeit zu wecken, mit Nachwirkung versteht sich.



Einen kriegerischen Anteil kann der Brennnessel trotzdem nicht abgesprochen werden. Mit all ihren Brennhaaren ist sie ja auch schwerbewaffnet. Mit Diplomatie hat die Brennnessel scheinbar nichts am Hut und geht sofort zum Angriff (oder ist es doch eine Verteidigung?) über. Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes bis zu den Zähnen bewaffnet, damit meine ich ihre sägeblattartig gezahnten Blätter, die ebenfalls bestens mit Brennhaaren ausgestattet sind. Über eine Unterwerfung, Bändigung oder gar eine Domestizierung lässt die Brennnessel nicht mit sich verhandeln. Sie wirkt stolz, unnahbar und unbeugsam, was sich in ihrem aufrechten, geradlinigen Wachstum widerspiegelt. Unabhängigkeit ist eine weitere ihrer Stärken. Um ihren Bestand zu erhalten braucht sie weder Mensch noch Tier, und auch auf den Wind kann sie notfalls verzichten. Zum einen ist die Brennnessel sehr fruchtbar und bildet zahlreiche Samen, aus denen viele Brennnesseln werden können. Die männlichen Blüten mit ihren Staubblättern sind kleine Kraftpakete, die ihre Pollen explosionsartig herausschleudern. Es wird häufig beschrieben, dass man diesen Pollenflug bei Windstille beobachten kann. Dies war mir leider noch nicht vergönnt, aber wahrscheinlich war ich zu ungeduldig. Zum anderen vermehrt sich die Brennnessel auch recht gerne über Wurzelableger. Und hat sie erst mal ein Fleckerl Erde erobert und fühlt sich dort wohl, lässt sie sich nicht wieder vertreiben. Kurz, sie ist nicht tot zu kriegen. In unserem Garten hat sie sich an verschiedenen Ecken eingenistet, mitunter mitten im Ribiselstrauch (Johannisbeere). Doch nachdem sie regelmäßig auf meinem Teller landet, stört sie dort auch nicht mehr. Und wenn sie doch einmal zu groß und störend wird, dann stutze ich sie ein bissl radikaler und nutze sie für eine Brennnesseljauche. Darüber freut sich dann der Rest des Gartens auch, da die Brennnessel ein sehr guter Stickstofflieferant und -anzeiger ist. Günstiger kann ein Dünger nicht sein. Doch nun zu weiteren verborgenen Schätzen der Brennnessel, die die Menschen in früheren Zeiten besser anzuerkennen und zu nutzen wussten. Davon wissen schon die Märchen zu berichten. In den „wilden Schwänen“ von Hans Christian Andersen wird auf die Nutzbarkeit als Faserpflanze hingewiesen. Um ihre Brüder von ihren Schwanengestalten zu befreien, musste die Märchenheldin 12 Hemden aus Brennnesseln fertigen. Und im Grimmschen Märchen „Jungfrau Maleen“ wird Bezug auf ihre kulinarische Qualität genommen. Womit wir nun auch bei meiner Lieblingsverwendung der Brennnessel angekommen sind.

Zuallererst ist eine Entwaffnung dieser feurigen Kriegerin vonnöten. Da gibt es mehrere Strategien: z.B. mit dem Nudelholz walken, blanchieren oder auch in Richtung der Brennhaare abstreifen. Am liebsten mag ich sie in allen spinatigen Variationen. Da sind der Vielfalt an Möglichkeiten keine Grenzen gesetzt, z.B.: Brennnesselnudeln, Ravioli mit Brennnesselfülle, Brennnesselstrudel, Brennnesselknödel, sogar als grüne Topfenknödel, wilde Spinatpizza, Brennnesselgnocchi, als Tarte und und und …

Dabei können die guten Inhaltsstoffe auf köstliche Weise einverleibt werden. Die Brennnessel ist sehr reich an Vitamin C – dreimal soviel wie Brokkoli, sechsmal mehr als die Zitrone und selbst die Ribisel übertrifft sie noch. Sehr geschätzt ist auch ihr enthaltenes Eisen, von dem der Spinat nur halb soviel besitzt und darüber hinaus ist sie ein sehr guter Eiweißlieferant, der wohl sogar das Soja übersteigen soll. Weiterhin enthält die Brennnessel reichlich Chlorophyll und viele Mineralstoffe wie Magnesium, Kalzium, Phosphor und Silizium. Da können die meisten unserer Kulturgemüsesorten nicht mithalten.

Welch eine Delikatesse die Brennnessel ist, wissen auch Schmetterlingsarten wie das Tagpfauenauge, das Landkärtchen oder der Admiral. Für ihre Nachkommenschaften ist diese das reinste Schlaraffenland. Die Raupen dieser Schmetterlingsarten ernähren sich ausschließlich von der Brennnessel. Als ich letztes Jahr selbst eine kleine Raupenzucht des Tagpfauenauges daheim hatte, kam ich kaum mehr mit der Futterbeschaffung nach. Den Raupen schienen die Brennhaare auch nichts auszumachen, sie haben da eine clevere Strategie entwickelt, sie fressen einfach um die Haare herum.

Auch in der Volksmedizin gilt die Brennnessel als große Heilerin und wird vielfältig eingesetzt. Darunter finden sich Blasen- und Nierenerkrankungen, Eisenmangel und Anämie, Müdigkeit, Hauterkrankungen u.v.m. Die beste Strategie jedoch ist, den Krankheiten zuvor zu kommen und sie regelmäßig auf die Speisekarte zu setzen - getreu der Aufforderung Hippokrates "Lass die Nahrung Deine Medizin sein und Medizin Deine Nahrung!", der diese Erkenntnis bereits vor 2000 Jahren bekannt gab.

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